80 Jahre verschwendet?
Die Geschichte der Managementtheorien erscheint wie eine langsame, aber stetige Entwicklung: Von Taylors mechanistischem Menschenbild zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Mitarbeitende als reine Produktionseinheiten betrachtete, über die schrittweise Erkenntnis des Menschen als soziales Wesen, bis hin zu modernen Ansätzen wie Holakratie. Doch diese Evolution war möglicherweise ein Umweg – denn bereits 1945 existierte mit der Soziokratie ein Konzept, das viele der «modernen» Prinzipien vorwegnahm. Während Unternehmen jahrzehntelang auf Kontrolle und Fremdorganisation setzten, lag die Blaupause für Selbstorganisation und Partizipation bereits in der Schublade. Eine erstaunliche Erkenntnis, die die Frage aufwirft: Haben wir 80 Jahre damit verschwendet, Macht auszuüben, statt Verantwortung zu teilen?
Der Ursprung der Selbstorganisation
Selbstorganisation ist in vielen Systemen allgegenwärtig. Denn nach der Systemtheorie ist Selbstorganisation «Das Leistungsvermögen eines Systems, seine eigene Struktur komplexer zu gestalten.» und einer der Gründe warum Systeme so gut funktionieren bzw. stabil sind (Meadows, 2010).
In diesem Beitrag stütze ich mich im ersten Teil auf das Buch «Selbstorganisation: Management aus ganzheitlicher Perspektive» von Dr. Andreas Dietrich aus dem Jahr 2001.
Schon im antiken Griechenland spekulierten die Philosophen über Chaos und Turbulenz als Ursache von Ordnung. Noch heute wird in der Literatur auf den Vorsokratiker Heraklit verwiesen, wenn es um den Prozesscharakter der Selbstorganisation geht. Danach hat sich in Sachen Selbstorganisation lange Zeit nicht mehr viel getan. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam wieder etwas Bewegung in die Sache (Dietrich, 2001, S. 92). Neue Impulse zur Selbstorganisation kamen aus der Systemtheorie, der Kybernetik, dem Holismus und der Thermodynamik (Dietrich, 2001, S. 93). Die eigentliche Selbstorganisationsforschung begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Doch fangen wir ganz am Anfang an. Denn Management als Funktion gibt es erst seit 1911 und wurde damals von Frederick Winslow Taylor eingeführt, als er die Planung dem Management vorbehielt und die Ausführung den Arbeitern überliess.
Vergleicht man die Managementtheorien vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute, so zeigt sich ein Trend von der Fremdorganisation zur Selbstorganisation.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Dietrich, 2001, S. 5-38.
Der Mensch als Maschine
Beginnen wir auf der Seite der Fremdorganisation mit dem «Scientific Management» von Frederick Taylor. In der Endphase der industriellen Revolution (zwischen 1903 und 1911) entwickelte er ein mechanistisches Menschenbild. Diese Zeit wurde geprägt vom Übergang zwischen manueller Produktion und industrieller Massenfertigung. Taylor hat mit seinem Ansatz die Arbeit entpersonalisiert. Dietrich sagt dazu: «Im Leben vieler Arbeiter verlor das Arbeiten seine einstmals zentrale Bedeutung, was langfristig eine Verlagerung des Lebenszentrums vom Arbeits- in den Freizeitbereich bewirkte.» (2001, S. 8)
Etwa zeitgleich entstand die angloamerikanische Managementlehre (um 1910). Sie zielte hauptsächlich auf die öffentliche Verwaltung ab. Für die deutschsprachigen Regionen war der Bürokratieansatz des Soziologen Max Weber prägender. Er entwickelte diesen vor allem zur Leistungssteigerung der Verwaltung zwischen 1910 und 1920 (Dietrich, 2001, S. 5). Die betriebswirtschaftliche Organisationslehre entstand im Deutschland der 1930er-Jahre. Etwa zur gleichen Zeit kam der «Human-Relations-Ansatz» auf (zwischen 1920 und 1930). Dieser förderte die Entstehung eines neuen Menschenbildes. Der Mensch wurde als soziales Wesen betrachtet. Sein Verhalten wurde nicht länger dem einer Maschine gleichgesetzt. Die Zugehörigkeit zu einem sozialen Umfeld wurde als wichtige Prägung verstanden (Dietrich, 2001, S. 17). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das «Harzburger Modell». Es förderte die Delegation an Mitarbeitende. In Stellenbeschreibungen wurden die Delegationsbereiche festgelegt, wodurch die Mitarbeitenden Handlungsverantwortung erhielten (Dietrich, 2001, S. 15). Dietrich meint dazu: «Die sehr weitgehenden Regelungen setzen eine stabile Umwelt voraus.» (Dietrich, 2001, S. 19).
Bis dahin war allen Ansätzen gleich, dass sie die Menschen nur als Objekt sahen. Die Managementmethoden zielten darauf ab, die Ursache tiefer Arbeitsleistung zu finden und zu beseitigen. Um die Ziele zu erreichen, mussten Menschen beeinflusst und gelenkt werden (Dietrich, 2001, S. 20).
Ab den 1950er-Jahren kamen Ansätze hinzu, welche sich zwischen Fremd- und Selbstorganisation einordnen lassen. Dem situativen Ansatz folgte das «Management by Objectives». Dieses wurde in unterschiedlichen Varianten umgesetzt. Das «Management durch Zielvereinbarung» gilt als eine der kooperativeren Varianten, ging es doch von eigenständigen und unabhängigen Menschen aus (Dietrich, 2001, S. 30).
Hin zu menschlicheren Managementtheorien
Mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Existenzsicherung nicht mehr im Vordergrund. Es folgte der «Human-Resources-Ansatz». Gespeist aus einer Vielzahl von Theorien gewannen psychologische und soziale Aspekte an Bedeutung. In diese Zeit fällt die Theorie der Bedürfnishierarchie von Maslow. Auch die Theorien X und Y von McGregor und die Hygienefaktoren und Motivatoren von Herzberg entstanden in dieser Zeit (Dietrich, 2001, S. 33). Dietrich nennt einige wichtige Erkenntnisse aus dieser Zeit: «Allein die günstige Gestaltung von Arbeitsumfeld (Job Environment) sowie Führungsstil bewirken keine höhere Leistungsbereitschaft. Dazu bedarf es in erster Linie einer gesteigerten Motivation, welche auf intrinsischen Faktoren beruht und deren Ursprung in den Arbeitsinhalten selbst liegt.» (Dietrich, 2001, S. 36)
Ebenfalls in den 1950er Jahren entstanden die ersten Ansätze zur Organisationsentwicklung. Einer ihrer Begründer war der Psychologe Kurt Lewin. Obwohl seine Theorie viele unterschiedliche Grundgedanken enthält, basiert sie auf zwei übereinstimmenden Ursachen: erstens die Veränderung der Umwelt und des Marktes durch dynamische politische und technische Anforderungen und zweitens die Forderung der Mitarbeitenden nach mehr Mitbestimmung und Berücksichtigung ihrer persönlichen Entwicklungsbedürfnisse (Dietrich, 2001, S. 37–38).
Dietrich kommt zu dem Schluss, dass die bisher betrachteten Modelle der immer komplexer werdenden Unternehmensumwelt nicht ausreichend gerecht werden. Zudem handelt es sich bei den Modellen nicht um ganzheitliche Ansätze (Dietrich, 2001, S. 79).
Ganzheitliche Denkweise
In seiner Untersuchung hat Dietrich festgehalten, wie sich die ganzheitliche Betrachtungsweise über einen langen Zeitraum entwickelt hat:
Das systemtheoretische Konzept weist eine enge Verbundenheit mit der Ganzheitsidee auf, deren Anfänge sich bis ins Altertum zurückverfolgen lassen. Die Idee des Holon, des Ganzen, bestimmte bereits das metaphysische Denken in der Philosophie Platons und Aristoteles. Nach und nach verlor diese ganzheitlich ausgerichtete Denkweise ihre Relevanz und wurde schliesslich durch ein mechanistisches Weltbild abgelöst, welches gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, der jedoch gleichzeitig den Wechsel hin zu einem erneuten holistischen Denken einleitete. (Dietrich, 2001, S. 99)
Und er ergänzte mit dem Hinweis: Mit einer ganzheitlichen Sichtweise lässt sich besser akzeptieren, dass Organisationen als komplexe Systeme nie vollständig steuerbar oder beherrschbar sind (Dietrich, 2001, S. 102).
Die selbstorganisierten Managementtheorien
Um die Chronologie fortzusetzen, fehlen nun zwei wichtige Vertreter der Selbstorganisationstheorien: Soziokratie und Holakratie.
Im Mai 1945 veröffentlichte Beatrice Cadbury Boeke einen Text ihres Mannes Cornelis «Kees» Boeke, in dem er eine neue Organisationsform für Demokratien vorschlug, die für kleine und grosse Gemeinschaften geeignet sein sollte. Nach dem Vorbild der Quäker hatte er diese Theorie in seiner Schule bereits praktisch erprobt. Er nannte sie «Soziokratie». Nach Boekes Verständnis ist die Soziokratie ein Führungs- und Organisationsmodell, in dem alle Beteiligten gleichberechtigt sind. Zentrales Element ist ein Entscheidungsprinzip, das Lösungen hervorbringt, die von allen akzeptiert werden können: Eine Entscheidung kann nur getroffen werden, wenn kein Mitglied der Gruppe einen begründeten, schwerwiegenden Einwand vorbringt, der sich auf die gemeinsam verfolgten Ziele bezieht (Boeke, 1945). Heute spricht man von Konsent, nicht zu verwechseln mit Konsens. Falls du noch nichts von Soziokratie gehört hast, oder den recht kurzen Originaltext von Kees Boeke noch nicht kennst, kann ich dir nur wärmstens empfehlen ihn auf der Webseite von sociocracy.info zu lesen.
Das von Brian Robertson 2007 entwickelte Organisationsmodell der Holakratie zielt auf die Auflösung klassischer Hierarchien. Als Weiterentwicklung der Soziokratie übernimmt es deren Grundprinzip der gleichberechtigten Mitbestimmung, führt aber ein noch präziseres Regelwerk ein. Während die Soziokratie auf dem Konsent-Prinzip basiert, definiert die Holakratie zusätzlich klare Rollen, Verantwortlichkeiten und Prozesse. Dieses detaillierte System schafft Strukturen, die Transparenz und aktive Teilhabe aller Beteiligten ermöglichen, und bietet gleichzeitig einen praktischen Rahmen für die organisatorische Umsetzung (Weller & Hunschock, 2012).
80 Jahre alte Alternativen
Schauen wir uns einmal die Entstehungszeiten dieser Theorien an: «Management by Objectives» oder kurz MbO – also das Grundprinzip des «Führens mit Zielen» stammt aus dem Jahr 1954. Es gibt heute kaum ein Unternehmen, das sich nicht mit diesem Führungsmodell auseinandersetzt. Wie sieht es bei dir aus? Wendet ihr in eurem Unternehmen MbO an? Gibt es Jahresabschlussgespräche, in denen die Zielerreichung überprüft und von Vorgesetzten bewertet wird?
Was viele nicht wissen: Die Soziokratie ist sogar noch älter – sie wurde bereits 1945 entwickelt. Das bedeutet, dass uns schon vor fast 80 Jahren eine Alternative zur klassischen Hierarchie zur Verfügung stand. Eine Organisationsform, die auf Gleichberechtigung und geteilter Verantwortung basiert. Ich frage mich manchmal, wo wir heute als Gesellschaft stünden, wenn wir uns in den letzten 80 Jahren mehr an den Ideen von Kees Boeke als an denen von Frederick Taylor orientiert hätten.
Abschluss
Ich sehe in der Geschichte der Managementtheorien der letzten 120 Jahre eine Entwicklung, die mich positiv stimmt. Ausgehend von einem mechanistischen Menschenbild wurde der Mensch im Laufe der Zeit auch in Unternehmen als soziales Wesen verstanden und später auch die intrinsischen Faktoren der Motivation erkannt. Bis hin zur Holakratie, die als sehr moderne Managementtheorie den Menschen als ganzheitliches Wesen mit dem Potenzial zur Selbstorganisation begreift und ihm Raum für eigenverantwortliches Handeln im Dienste der gemeinsamen Organisation gibt.
Quellen:
- Boeke, K. (1945). Soziokratie: Demokratie wie sie sein könnte. Zugriff am 11.01.2025. Verfügbar unter https://www.sociocracy.info/sociocracy-democracy-kees-boeke/
- Dietrich, A. (2001). Selbstorganisation: Management aus ganzheitlicher Perspektive. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.
- Meadows, D. (2010). Die Grenzen des Denkens: Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können. Deutsche Ausgabe: oekom
- Weller, D., & Hunschock, R. (2012). Holakratie – ein systemisch-integraler Entwicklungsansatz für Führung und Organisation. Wirtschaftspsychologie, (Heft 3), 89–99.
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